Präzise heißt nicht kurz

Die Länge unseres Kommunikationswegs hängt von unserer Zielgruppe ab, die wir erreichen wollen. Deshalb heißt „präzise formulieren“ nicht automatisch „kurz und komprimiert formulieren“. Es geht darum, sich mit dem eigenen sprachlichen Niveau auf die Verständnisstufe derjenigen Leserschaft zu stellen, die wir von unserem Anliegen überzeugen und für die Akzeptanz oder gar Unterstützung unserer Sache gewinnen wollen.

1. Kommunikationsweg zwischen zwei Experten derselben Fachrichtung

Bei einem Schreiben, das sich an eine Fachkollegin richtet, weiß ich, dass sie dieselbe Sprache spricht wie ich. Ich brauche mir also keine Gedanken darüber zu machen, ob sie mir bei der Darstellung eines komplexen Sachverhalts folgen kann. In der Regel kann ich ohne große Erklärungen zur Sache kommen, weil ich weiß, dass meine Kollegin die Fachausdrücke meiner Branche kennt und die Zusammenhänge des Sachverhalts auf Anhieb begreift. Der Kommunikationsweg zwischen mir und meiner Fachkollegin ist daher in der Regel kurz und direkt.

2. Kommunikationsweg zwischen Experte und Halbexperte

Sobald ich mich aber an einen Kollegen wende, der zwar in derselben Firma aber in einer ganz anderen Abteilung arbeitet, kann ich nicht mehr davon ausgehen, dass er jeden Fachbegriff meines Fachbereichs kennt, geschweige denn in das aktuelle Verfahren involviert ist, auf das sich der Sachverhalt bezieht, über den ich ihm schreibe. Damit er versteht, worum es mir in meinem Schreiben geht und wofür ich seine Unterstützung brauche, muss ich ihn über den aktuellen Stand des Verfahrens aufklären und vereinzelte Fachausdrücke, die das Spezialwissen meiner Abteilung voraussetzen, durch Begriffe ersetzen, die ihm geläufig sind oder diese zumindest erklären.

Das bedeutet, dass sich der Kommunikationsweg zwischen mir und meinem Firmenkollegen verlängert, da ich nicht mehr ohne weiteres davon ausgehen kann, dass er mir auf dem kurzen, erläuterungslosen Kommunikationsweg folgen kann. Fachbegriffe und vorausgesetztes Verfahrenswissen sind Hindernisse auf diesem kurzen Weg, für die mein Kollege keine Ausrüstung hat und über die er ohne Unterstützung stolpern würde.

3. Kommunikationsweg zwischen Experte und Laie

Noch länger wird der Kommunikationsweg, wenn ich mich als Expertin eines bestimmten Fachgebietes mit meinem Schreiben an eine Person wende, die sich in diesem Bereich überhaupt nicht auskennt. Wenn ich ein Anliegen habe, das mit einem relativ komplizierten Sachverhalt meines Arbeitsbereichs zu tun hat und das diese Person erfüllen soll, muss ich meinen direkten Kommunikationsweg verlassen und einen längeren Umweg einschlagen.  Firmeninternes Vorwissen, das ich bei meinem Kollegen noch voraussetzen konnte, ist für den fachlichen und firmenexternen Laien vollkommen unbekanntes Terrain. Damit ich ihn heil ans Ziel bringe, wo ich mir seine Unterstützung oder Kooperation erhoffe, muss ich einen Kommunikationsweg wählen, der zwar länger ist, ihn dafür aber nicht überfordert und am Ende gar frustriert umkehren lässt. Alles, was mein fachfremder Adressat nicht wissen kann, muss ich erklären. Nur so erreiche ich am Ende mein Ziel: verstanden und unterstützt zu werden!

4. Kommunikationsweg zwischen Experte, Halbexperte und Laie mit fachsprachlichem Strahlungsradius

Fachsprache hat einen begrenzten Strahlungsradius. Ihre Reichweite strahlt nur minimal über den Kreis eingeweihter Expertenkollegen hinaus. Wenn wir als Experten einen größeren Kreis von Menschen erreichen wollen, müssen wir die Strahlkraft unserer Sprache vergrößern. Hier gilt: Je mehr ich meine Sprache vereinfache, umso größer wird ihre Strahlkraft. Je weiter abseits mein Adressat von meiner fachlichen Kompetenz steht, umso einfacher muss ich mich ausdrücken. Nur dann kann das Licht meiner fachlichen Kompetenz in das Dunkel meiner fachfremden Kommunikationspartner hineinleuchten und es erhellen.

Zu Beginn jeder Überarbeitungsphase eines Textes empfiehlt es sich deshalb, sich ein möglichst konkretes Bild von denjenigen zu machen, die unsere Texte verstehen sollen. Denn erst dadurch gewinnen wir das nötige Gespür dafür, welchen Grad von Einfachheit wir wählen müssen, damit unser Adressat uns versteht.

Präzise heißt: auf den Adressaten zugeschnitten formulieren. Die Kürze hängt von seinem Vorwissen ab.