Publiziert am: 08.10.2012 | Kategorie(n): Blog Schreiben im Beruf | Verschlagwortet mit: Schreibforschung, Schreibphasen, Schreibprozess
Die meisten Teilnehmenden erwarten zu Beginn meines Workshops „Kompetent Schreiben im Beruf“ konkrete Hinweise zu sprachlichen Fragen. Dazu gehören:
- präzise Formulierungen,
- sprachliche Kriterien für die Textverständlichkeit,
- stilistische Regeln für ein „gutes Deutsch“ und
- strukturelle Vorgaben für berufsrelevante Textsorten.
Besonders nachgefragt sind außerdem Textbausteine, die von mir als Sprachexpertin vorformuliert und im Idealfall in jedem Schreiben einsetzbar sind.
In der modernen Schreibprozessforschung gehören all diese Arbeitsschritte allerdings erst zur letzten Phase des Schreibprozesses, der aus drei Arbeitsphasen besteht:
- der Phase der Konzeption
- der Phase des Niederschreibens
- der Phase der Überarbeitung.
Alle Erwartungen, die die Teilnehmenden in meine Seminare mitbringen, spiegeln für mich immer wieder eindrücklich die Situation der modernen beruflichen Schreibforschung in Deutschland: Sie hat sich noch längst nicht durchgesetzt.
Natürlich haben stilistische Ansprüche an geschriebene Texte ihre Berechtigung. Und selbstverständlich sollte man seine eigenen Texte immer auf die Verständlichkeit für Leserinnen und Leser überprüfen.
Aber: Die sprachliche Überarbeitung von Texten gehört erst in die letzte der drei Arbeitsphasen im Schreibprozess. Dieser Überarbeitungsphase gehen jedoch zwei Phasen voraus, die für eine gelungene Textentstehung ebenso wichtig sind:
- die Konzeption des Textes und
- die Niederschrift des ersten Textentwurfs.
Ich lege Wert darauf, dass meine Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer die Erfahrung machen, dass sie die Niederschrift ihres ersten Textentwurfs (2. Phase im Schreibprozess) extrem beschleunigen können, indem sie die herkömmlichen Ansprüche an sprachlichen Ausdruck, Stil und Verständlichkeit bewusst zurückstellen und möglichst bald drauflos schreiben, wenn sie die 1. Phase des Schreibprozesses (Materialsammlung, Recherche, Textkonzeption etc.) abgeschlossen haben.
Wer von Beginn des Schreibprozesses an keine Fehler zulässt, hemmt seinen eigenen Schreibfluss. Gerade Menschen, die zu Perfektionismus neigen, fällt das aber besonders schwer. Da sie jedes Wort auf die Goldwaage legen, bevor sie es aufschreiben, dauert es für sie eine gefühlte Ewigkeit, bis der erste Text geschrieben dasteht.
Vielen fällt das Schreiben leichter, wenn sie es bewusst als 2. Phase des dreigliedrigen Schreibprozesses begreifen: die ungebremste Niederschrift der ersten Textfassung.
Das Ergebnis einer solchen ungehemmten Textproduktion sind zwar in der Regel keine vorzeigbaren oder druckreifen Texte. Aber es sind Texte, von deren Qualität die meisten Teilnehmenden selbst überrascht sind.
Denn es entstehen so gut wie immer brauchbare schriftliche Arbeitsgrundlagen, ohne die die 3. Phase des Schreibprozesses nicht einsetzen kann: die Überarbeitungsphase.
Erst jetzt ist Perfektionismus gefragt. Denn: Es ist viel leichter, einen unvollkommenen Text zu überarbeiten, als Gedanken auf Anhieb druckreif zu formulieren.
Wer kompetent schreibt, ist deshalb klar im Vorteil: Sie oder er weiß, dass die erste Textfassung nie die letzte ist.