Die „moderne“ deutsche Stillehre ist über hundert Jahre alt und steckt doch in Kinderschuhen

Publiziert am: 02.06.2013 | Kategorie(n): Blog Schreiben im Beruf | Verschlagwortet mit:  , ,

Zeit seines Lebens hat sich Wolf Schneider für einen guten Stil in der deutschen Schriftsprache einsetzt und zahlreiche Ratgeber zu diesem Thema veröffentlicht. 2022 starb der ehemalige Journalist und jahrzehntelange Journalistenausbilder mit 97 Jahren, gilt aber nach wie vor als deutscher Stilpapst und Legende auf dem Gebiet der treffenden Formulierungen. Mit seinem Anliegen, der deutschen Schriftsprache ihre weit verbreitete Unverständlichkeit zu nehmen, war er jedoch nicht der erste.

Eduard Engel (1851-1938) setzte sich bereits vor über hundert Jahren dafür ein, den Schreibstil der Juristen, Wissenschaftler, Journalisten und Geschäftsleute zu verbessern. Im Jahr 1911 veröffentlichte er seine „Deutsche Stilkunst“, die enormen Anklang fand und bis 1932  31-Mal neu aufgelegt wurde. Sein knapp 500 Seiten starkes Werk ist eine wahre Fundgrube an Beispielen branchentypischer Stilblüten und unverständlicher Formulierungen, denen er deutliche Anweisungen gegenüberstellt, wie klare und verständliche Sätze entstehen.

1933 wurde Engel jedoch von den Nationalsozialisten aller Ämter enthoben und durfte nicht mehr veröffentlichen. Engel war Jude, verarmte durch die Auswirkungen der nationalsozialistischen Rassegesetze und starb 1938. Als Vater der deutschen Stilkunst wird heute regelmäßig Ludwig Reiners bezeichnet, vielen bekannt als Herausgeber der Gedichtsammlung „Der ewige Brunnen“. Allerdings zu Unrecht. Denn Ludwig Reiners Stillehre ist nichts anderes als ein Plagiat der Stilkunst Eduard Engels.

Es erschien 1943 mit dem Titel „Stilkunst: Ein Lehrbuch deutscher Prosa“ und erlebte bis in die 1990-er Jahre zahlreiche Neuauflagen. Die Tatsache, dass Reiners bei Eduard Engel in weiten Teilen abschrieb und einen äußerst geringen eigenen Beitrag leistete, war 1943 und kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs zwar bekannt, geriet aber, ebenso wie Eduard Engel selbst, in den nachfolgenden Jahren in Vergessenheit.

Die Würdigung Engels als ersten Stilisten einer modernen deutschen Geschäftssprache in Schriftform steht noch aus.  Wegen seiner ausdrücklichen Abneigung gegen Fremdwörter („Entwelschung der deutschen Sprache“) wird er von deutschen Stilfachleuten bis heute ignoriert. Tatsache ist jedoch, dass Engels Betrachtungen zum Kanzlei-, Wissenschafts- und Feuilletonistenstil noch heute Beachtung verdienen, weil zahlreiche Stilblüten und Formulierungsschwächen, auf die er hinweist, auch nach über hundert Jahren noch geläufig und trotz seiner überzeugenden Argumente noch längst nicht ins allgemein anerkannte Jenseits stilloser Formulierungen verbannt worden sind.

Wolf Schneider zum Beispiel prangert zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch die gleichen Stilblüten und sprachlichen Entgleisungen an, wie Eduard Engel es bereits ein Jahrhundert zuvor getan hatte. Und das, wo man doch davon ausgehen sollte, dass sich mit der Entwicklung einer modernen Gesellschaft auch eine moderne Form der Geschäftssprache entwickelt hat. So schnell sich die mündliche Sprache auch verändert und auf aktuelle Veränderungen in der Gesellschaft reagiert, die deutsche Schriftsprache braucht dafür offensichtlich sehr viel länger. Insbesondere in der Geschäftskorrespondenz, in der sich herkömmliche Floskeln hartnäckig halten, obwohl Sprachexpertinnen und -experten sich seit über hundert Jahren einig sind, dass sie nicht zum guten Ton gehören.

Ich vermute, dass das weniger an der mangelnden Überzeugungskraft der deutschen Stillehrkräfte liegt, sondern daran, dass unsere tägliche Schriftsprache nicht demselben spontanen Korrektiv unterliegt wie dies bei der mündlichen Unterhaltung der Fall ist. Wenn wir etwas aufschreiben, fehlt uns die spontane Reaktion der Person, für die wir unsere Zeilen formuliert haben. In der Regel erfahren wir überhaupt nicht, wie unsere Leserinnen und Leser die Zeilen aufnehmen, die wir formuliert haben. Wir bekommen eine Resonanz auf das sachliche Anliegen, aber in der Regel nicht auf den Stil unseres Schreibens.

Erst wenn wir explizit eine Leseresonanz auf unsere Texte einfordern, bekommen wir Gelegenheit zu überprüfen, wie unsere Formulierungen bei unserem Korrespondenzpartnerinnen und -partnern angekommen sind. Aber wer macht das schon im beruflichen Alltag? Solange sich keiner beschwert, funktioniert unsere Sprache offensichtlich und wir brauchen sie nicht zu überdenken.

Hinzu kommt, dass die Stilkunde im Deutschunterricht des 21. Jahrhunderts keinen Platz hat. Weder an allgemeinbildenden, noch an beruflichen oder gar Hochschulen. Beruflich Schreibende schauen sich den branchenüblichen Stil im Kollegenkreis und bei Vorgesetzten ab, die auch keine stilistische Schreibausbildung genossen haben. Das ist der Grund, warum sich der schwer verständliche Nominalstil in „offiziellen“ Briefen hartnäckig hält. Lesbare und auf Anhieb verständliche Schreiben gelten als naiv und unprofessionell. Dabei wussten schon die Stillehrkräfte vor einhundert Jahren: Das Gegenteil ist richtig.