Wozu Schreibforschung?

Publiziert am: 16.03.2016 | Kategorie(n): Blog Schreiben im Beruf | Verschlagwortet mit:  , , ,

Wozu Schreibforschung? ‒Wissenschaftliche Hintergründe und wegweisende Erkenntnisse einer jungen Forschungsrichtung

Die Situation in Deutschland heute

Als Schreibberaterin begegne ich regelmäßig zwei völlig konträren Vorurteilen über das Schreiben:

 Vorurteil 1):

„Schreiben kann doch jeder. Das lernt man in der Schule.“

Vorurteil 2):

„Beim Schreiben handelt es sich um eine geniale Gabe, die uns entweder in die Wiege gelegt ist oder eben nicht. Diese Fähigkeit kann man nicht lernen.“

Diese Vorurteile spiegeln die Situation einer Fähigkeit, die in Deutschland von vielen Berufsanfängerinnen und -anfängern erwartet, aber nur selten professionell vermittelt wird.

Wer eine deutsche Schule verlässt, hat im besten Fall folgende Schreibkompetenzen erworben:

  • die Schreibbewegungen der Hand
  • das Vermögen, Gedanken schriftlich festzuhalten
  • Rechtschreibung und Grammatik
  • Schulaufsätze schreiben

Deutsche Schreib- und Sprachexperten wie Wolf Schneider oder Ernst Alexander Rauter verstehen unter professioneller Schreibkompetenz etwas anderes: das Vermögen, sich über Fachgrenzen hinweg verständlich und anschaulich auszudrücken.

Berufsrelevante Textsorten lernen Schülerinnen und Schüler in der Regel nicht kennen

Das leserorientierte Schreibverhalten, für das Schneider und Rauter plädieren, wird allerdings an kaum einer deutschen Schule unterrichtet. Kein Wunder, dass sich viele Auszubildende, Studierende, aber auch Berufstätige beim Verfassen professioneller Texte in Studium und Beruf unsicher fühlen. Denn berufsrelevante Textsorten wie Berichte, Artikel, Pressemeldungen, Gutachten, Protokolle, Kundenangebote, Geschäftsbriefe etc. sind Textsorten, die andere Schreibkompetenzen voraussetzen, als sie im Deutschunterricht vermittelt werden.

Nach ihrem Schulabschluss verbinden Menschen Schreibaufgaben außerdem mit negativen Gefühlen, weil das Feedback der Deutschlehrkraft in der Regel defizitorientiert ist. Im Vordergrund steht nicht die Frage, wie überhaupt ein guter Text entsteht, sondern was im Aufsatz alles falsch gemacht wurde. Typische Kommentare, die Schüler nach der Korrektur unter ihrem Aufsatz lesen, sind: „Achte auf Rechtschreibung, Grammatik und Tempus“. „Du musst Deine Gedanken besser strukturieren“ oder gar „Thema verfehlt!“.

Die Überzeugung, dass Schreiben ein Handwerk und als solches mit entsprechenden Techniken auch von Leuten erlernbar ist, die sich nicht von der Muse geküsst fühlen, verdanken wir „the science of writing“. Eine Forschungsrichtung, die in Amerika seit dreißig Jahren anerkannt und etabliert ist, im Land der Dichter und Denker allerdings erst vor zwanzig Jahren angekommen ist und bis heute um Beachtung kämpft.

Schreibzentren, an denen professionelles Schreiben unterrichtet wird, haben sich inzwischen zwar an vielen deutschen Universitäten entwickelt und etabliert. Allerdings steht dort das wissenschaftliche Schreiben im Vordergrund des Interesses, während das berufliche Schreiben nur am Rande Beachtung findet.

Die amerikanische Schreibforschung seit den 1970/80er Jahren

Entstanden ist die amerikanische Schreibforschung in den 1970er Jahren durch eine Analyse des Schreibverhaltens von Collegeschülerinnen und -schülern. Bildungsfachleute hatten in den 1960er Jahren den Rückgang ihrer Schreibkompetenz bemängelt. Um Empfehlungen für einen verbesserten Schreibunterricht geben zu können, entschlossen sie sich zur Erforschung der Gründe.

Die Leitfrage der Forschenden war: Was tun Schreibende eigentlich im Einzelnen, wenn sie Texte erstellen?

Das Ergebnis dieser Schreibstudien hat das Verständnis von Schreibkompetenz revolutioniert und die moderne Schreibdidaktik begründet:

  • Gute Texte entstehen nicht durch einen genialen Wurf begabter Sprachgenies.
  • Gute Texte sind das Ergebnis eines komplexen Schreibprozesses, der sich in einzelne, weniger komplexe Prozesse zerlegen lässt.