Fachkompetenz vermitteln wir nicht durch Fachchinesisch

In zahlreichen Seminaren der unterschiedlichsten beruflichen Kontexte begegne ich immer wieder Fachleuten die davon überzeugt sind, dass ihr Text in Ordnung ist, wenn die sachliche Darstellung stimmt.

Vorurteil 1: Die sachlich korrekte Darstellung hat in jedem Fall Priorität.

Viel wichtiger als die Akzeptanz durch den Leser ist Schreibenden in beruflichen Kontexten, dass sie den Sachverhalt, für den sie als Fachmann oder Fachfrau stehen, korrekt darstellen. Die Angst vor dem Verlust der fachlichen Anerkennung ist viel größer als die Angst vor dem Verlust der Adressatin oder des Kunden. Wenn ein Sachverhalt schwierig ist, davon sind die meisten Fachleute überzeugt, dann ist er nur durch eine komplizierte Sprache darstellbar.

Vorurteil 2: Je schwieriger ein Sachverhalt, desto komplizierter die Sprache.

Viele Fachleute sind sogar davon überzeugt, dass sie sich durch die Verwendung einer komplizierten Sprache Respekt und Anerkennung verschaffen. Eine person, die ihren Text nicht versteht, versteht eben nichts von der Sache. Akzeptanz erwarten sie sowieso nur von ebenbürtigen Expertinnen und Experten. Den anderen flößen sie mit ihrer „Expertensprache“ den nötigen und zielführenden Respekt ein.

Vorurteil 3: Eine komplizierte Fachsprache verschafft Respekt und Anerkennung.

Viele Fachleute lehnen von Vornherein jeden Versuch ab, sich einfach und auch für eine fachfremde Leserschaft verständlich auszudrücken, weil ihnen die Verwendung einer einfachen Sprache für Sachverhalte ihres anspruchsvollen Fachgebiets suspekt ist. Zwischen einem „Deutsch für Doofe“ (Originalzitat eines Seminarteilnehmers) und der in der Branche üblichen Fachsprache gebe es keinen sprachlichen Spielraum.

Vorurteil 4: Zwischen komplizierter Fachsprache und „Dummdeutsch“ (Sprache ohne Niveau) gibt es keinen Spielraum.

Diese vier Vorurteile und die entsprechende Schreibhaltung dazu ist unter Berufstätigen der unterschiedlichsten Branchen verbreitet – bei sachbearbeitenden Angestellten und Führungskräften gleichermaßen. Entsprechend wird sie auch an Berufsanfängerinnen und -anfänger weitergegeben. Früh eignen sich Neulinge in der Regel den Branchensprech ihrer neuen Berufswelt an. Damit demonstrieren sie, dass sie fachlich angekommen sind und sich auskennen. Ein intuitives Verhalten, das innerhalb des eigenen Kollegenkreises nicht nur seine Berechtigung hat, sondern auch gut ankommt. Nach dem Motto: “Ah, die Neue weiß, wovon sie spricht. Sie spricht unsere Sprache.“

Wie aber sieht es aus, wenn wir Fachtexte für berufliche Kontexte schreiben sollen, an denen Menschen beteiligt sind, die unser Knowhow nicht haben und unsere fachlichen Codes nicht kennen? Beeindruckt unser Branchensprech diese Zielgruppe? Bewundert sie uns für unser Fachwissen? Oder empfinden fachfremde Leserinnen und Leser unsere Sprache eher als Fachchinesisch, das sie verunsichert, weil sie es nicht verstehen? Wozu führt eine solche Verunsicherung bei der Zielgruppe unserer Texte? Riskieren wir ihr Misstrauen, schüren wir gar Ängste in ihr, dass sie nicht versteht, worauf es ankommt?

Sobald diese Gefahr besteht, ist in jedem Kontext beruflichen Schreibens Vorsicht geboten! Denn eine adressierte Person, die uns nicht traut, weil sie uns nicht versteht, ist im harmlosen Fall eine unerreichte Adressatin, im schlimmsten Fall gar ein verärgerter Leser. Im Zweifel akzeptiert er unseren Kompromissvorschlag nicht, kommt nicht für entstandene Mehrkosten auf oder beschwert sich beim Chef über unsere mangelnde Kooperationsbereitschaft.

In beruflichen Kontexten geht es immer darum, unsere Leserinnen und Leser zu einer Handlung zu motivieren, z. B. eine Veranstaltung zu besuchen, eine Frist einzuhalten, ein Anliegen zu unterstützen, eine Rechnung zu bezahlen, sich an den Ablauf eines Verfahrens zu halten usw.

Das können wir aber nur erreichen, wenn die adressierten Personen unser Schreiben verstehen. Der Maßstab für die Verständlichkeit unseres Textes ist deshalb nicht unsere eigene Fachkompetenz oder die unseres unmittelbaren Kollegenkreises. Sondern der Erfahrungs- und Wissenshorizont unserer Zielgruppe in Bezug auf den konkreten Sachverhalt, über den wir ihr schreiben.